Der „Mutterkomplex“ – ein Thema welches mich schon seit langer Zeit beschäftigt. Eine Frage, die oft in lesbischen Foren gestellt wird ist: „Ich verliebe mich immer nur in ältere Frauen, habe ich einen „Mutterkomplex“?“ Auch ich stellte mir diese Frage seit meiner Jugend immer wieder (jetzt zum Glück nicht mehr), ich war verwirrt über meine Gefühle zu älteren Frauen, oft waren sie meine Lehrerinnen oder Frauen, die mich in meinem Lebensweg sehr stark prägten, sie dienten mir als Vorbild, ich wollte so sein wie sie, so schön, so sopisticated, so sinnlich…

Es war einer der Gründe, warum ich es strikt ablehnte, mich als lesbisch zu bezeichnen, denn meine Umwelt vermittelte mir, dass die Liebe zu älteren Frauen etwas Unormales sei, höchstens eine Schwärmerei, eine „Übergangsphase“, ich wurde belächelt, oder es kamen Kommentare wie: „Als ich so alt war wie du, habe ich auch für ältere Frauen geschwärmt, aber irgendwann wird man erwachsen und stellt sich dem „wirklichen“ Leben.“.

Simone de Beauvoir vertritt in ihrem Buch „Das andere Geschlecht“, welches ich gerade lese, im Kapitel „Das junge Mädchen“ genau diese negative Einstellung, sie spricht die lesbische Neigung zwar an, welche bei jungen Frauen vor allem auf ältere Frauen bezogen sehr häufig auftritt, doch sieht sie diese in den meisten Fällen als eine Übergangsphase an,

„Die homosexuelle Erfahrung kann zu einer wirklichen Liebe werden, sie kann dem jungen Mädchen ein so glückliches Gleichgewicht verschaffen, daß es diesen Zustand verewigen, wiederholen möchte und in nostalgischer Erinnerung bewahrt. Sie kann eine lesbische Bestimmung enthüllen oder entstehen lassen. In den meisten Fällen aber ist sie nur eine Etappe, zu einfach, um nicht zum Scheitern verurteilt zu sein. In der Liebe zur älteren Geschlechtsgenossin verbirgt sich die Sehnsucht nach der eigenen Zukunft: das junge Mädchen will sich mit seinem Idol identifizieren, das seine Aura – außer im Fall einer ungewöhnlichen Überlegenheit – bald verliert.“

Natürlich hat sie damit recht, dass die meisten jungen Frauen sich dann doch den Männern zuwenden, doch hat dies, so glaube ich, andere Gründe, als diejenigen, welche sie einbringt. An anderer Stelle behauptet sie, dass junge Mädchen die lesbische Phase durchmachen, da der Mann ihnen noch zu fremdt ist, sie fürchten sich vor ihm und wählen stattdessen eine Frau – das klingt für mich sehr negativ, ich persönlich denke, dass die Liebe zu älteren Frauen nicht aus einer Männer-ablehnenden Einstellung heraus passiert sondern ganz für sich selbst steht. Der Grund, warum viele Frauen, ihre geheimen Jugendträume aufgeben ist der, dass die Frauen, an die sie sich wenden, ihnen meistens nicht das geben können, was sie suchen, da auch sie Suchende sind. In ihrer Aura/Austrahlung spielgelt sich die selbe Bedürftigkeit, Idealismus… der unbedingte Glauben and die Liebe. In manchen Fällen sublimieren solche Frauen ihre Leidenschaften in einer Sache, z. B. in der Kunst oder der Literatur, und sie fordern ihre junge Verehrerin auf, es ihr gleich zu tun. Ein weiterer Grund ist der, dass die Gesellschaft einen so großen Druck auf die Frauen ausübt heterosexuell zu werden/zu sein, dass viele sich ihre Neigung nicht eingestehen, sie verdrängen, sich selbst und ihr eigenes Begehren begraben.

Und so kommt es schnell zu der Theorie vom „Mutterkomplex“, die Mutter als erste Bezugsperson war nicht in der Lage, die Bedürfnisse der Tochter ausreichend zu erfüllen, oder im Gegenteil, sie überhäufte sie mit Zärtlichkeit und Zuwendung, dass die Tochter weiterhin sich an dieser Liebe orientiert. Meine Frage wäre: was ist denn bitte das richtige Maß an Mutterliebe, damit dann dabei Heterosexualität herauskommt ;-)? Es wäre deswegen müßig, die Liebe junger Frauen zu älteren Frauen und umgekehrt als eine Art von psycholgischen Defizit, eine Abweichung von der „Norm“, darzustellen. In Wirklichkeit ist die Norm nur dass, was eine herrschende Kaste, in diesem Falle die Männer, zu ihren eigenen Gunsten festlegt (Frauen gehören/dienen Männern, deswegen Heterosexualität als das Normale).

Was im Allgemeinen als „Mutterkomlex“ abgetan wird, ist vielleicht auch eine höhere Form der Liebe, es spiegelt sich nämlich die elementare Verbindung zwischen Mutter und Tochter in ihr, denn die Mutter ist die erste Bezugsperson im Leben des jungen Mädchens, in ihrem Bauch war sie mit ihr verschmolzen und auch sie besitzt die Möglichkeit selbst Mutter zu sein. Die Verbindung zwischen zwei Frauen ist so eng, sie geht wesentlich tiefer, als die Verbindung zwischen einem Mann und einer Frau, sie ist transzendent und falls sexuelle Gefühle dazu kommen – „Viele haben mit ihren Schwestern oder mit der Mutter eine innige Zärtlichkeit erlebt, die unmerklich von Sinnlichkeit geprägt war. Ebenso unmerklich kann der gleitende Übergang von Zärtlichkeit zur Lust mit der bewunderten Geliebten vonstatten gehen.“ (Simone de Beauvoir) – wird sie zu etwas Gefährlichem, eine Bedrohung für das patriarchale System, welches auf dem Glauben an eine männnliche Dreifaltigkeit – „Vater, Sohn und heiliger Geist“ aufbaut. Es gibt in der Tat einen mythologischen Zusammenhang, aber das ist ein sehr komplexes Thema und müsste in einem eigenen Text erläutert werden.

Im Kapitel „Die Lesbierin“ beschreibt Beauvoir das Phänomen, dass die mütterliche Liebe der lesbischen Liebe und umgekehrt oft sehr nahe kommt:

„Das Herz ist gleich in uns’rer Frauenbrust,
Geliebte, unser Körper gleich beschaffen,
ein so schweres Schicksal lastet gleich auf uns.
So lese ich Dein Lächeln und den Hauch des Schattens…
Meine Sanftmut ist gleich Deiner,
und manchmal glauben wir sogar, vom gleichem Stamm zu sein.
In Dir liebe ich mein Kind und meine Freundin, meine Schwester.“
(Renée Vivien aus Sortilèges)

„Diese Aufspaltung kann mütterliche Züge annehmen. Die Mutter, die sich in ihrer Tochter wiedererkennt und entfremdet, fühlt sich oft sexuell verbunden. Die Lust, ein zartes fleischliches Objekt schützend in den Armen zu wiegen, ist ihr mit der Lesbierin gemein.“

Viele Frauen tun sich schwer, sexuelle Gefühle für die ältere Frau, in die sie sich verliebt haben, zu zulassen, da sie unbewusst ihr Begehren mit einem tabuisierten Begehren in Bezug auf die Mutter gleichsetzen, oder es überhaupt nicht ernst nehmen, da die Gesellschaft ihnen vermittelt, dass die Liebe zu älteren Frauen etwas „unreifes“, „unvollendetes“ ist. Umgekehrt ist dies sogar noch häufiger der Fall und führt oft zu schmerzvollen Erfahrungen, wenn die Jüngere, auf Grund ihres Alters oder Herkunft weniger konservativ eingestellt ist und sich mehr als die bloße mütterliche Zährtlichkeit wünscht. Auch Simone de Beauvoir hat sich mit diesem Thema schwer getan, in ihrem Werk finden sich viele Widersprüche, doch ist sie eine der Wenigen, die es wagt, diese Thematik überhaupt anzusprechen. Was dem größten Teil der Öffentlichkeit jedoch nicht bekannt ist, ist die Tatsache, dass sie im letzten Drittel ihres Lebens neben Jean Paul Sartre eine Beziehung zu der 34 Jahre jüngeren Sylvie le Bon hatte, welche sie adoptierte und später als ihre Erbin einsetzte. Es ist schade, dass dies so sehr ignoriert wurde und ihrem Verhältnis zu Sartre ein viel größerer Wert beigemessen wurde, denn grade diese tiefe Beziehung zwischen Beauvoir und le Bon könnte für Frauen, die sich mit der lesbischen Liebe schwer tun, als eine Ermutigung, ein positives Vorbild dienen.

Anschließend möchte ich noch einen Link auf ein Video des Studios Girlfriendsfilms hinzufügen, welches sehr stilvolle, erotische, lesbische Filme produziert und auch das Thema „ältere Frauen mit jüngeren Frauen“ in ihrem Programm hat. Es hat mir persönlich sehr geholfen, da es in schönen Bildern aufzeigt, wie Sex zwischen Frauen in der Praxis überhaupt aussehen kann.