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Hier ist der zweite Teil des Textes von Lillian Faderman, der sich mit der Konstruktion und zugleich Pathologisierung der homosexuellen Identität durch die Sexualwissenschaftler des 19. Jahrhunderts beschäftigt. Auch wenn er erneut nicht gerade kurz ist, lohnt es sich ihn zu lesen- wie übrigens das ganze Buch von Faderman!- da dort sehr schön herausgearbeitet wird, dass das biologisch-medizinische Erklärungsmodell von „Homosexualität“ (ich bin so geboren, daher trifft mich keine Schuld, und ich kann mich auch nicht ändern. In meinem Körper wohnt eine geschlechtlich entgegengesetzte Seele, ich habe eine seelische Intersexualität usw) letztendlich ein von Männern für Männer gemachtes Konzept war/ist: Um der juristischen Strafverfolgung zu entgehen, die auf der christlichen Sexualmoral basierte, für die Sexualität nur zum Zweck der Fortpflanzung legitim war. Alles andere war Sodomie und Sünde. Frauen konnten damit zusätzlich in ihren Emanzipationsbestrebungen in Schach gehalten, denn welche Frau wollte schon als „geborene Abnorme“, als „seelische Transvestintin“ oder als als Vertreterin des „dritten Geschlechts“ gesehen werden? Und wie diese männlichen medizinischen Erklärungsmodelle des 19. Jahrhunderts fast nahtlos in die moderne Queer Theorie- und ihrer Vorstellung und Befürwortung, bzw. ideologische Einbindung von Transsexualität und  transsexuellen Operationen- übergegangen sind, darauf werde ich in den nächsten Texten meiner Butch-Femme-Reihe eingehen: FzM- (Frau zu Mann) Transsexualismus und die Vernichtung von Lesben.

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Während Havelock Ellis im Anhang D seines Buches darzulegen versuchte, dass erotische Liebe zwischen jungen Frauen zu seiner Zeit völlig alltäglich war, bezweifelte er die Ernsthaftigkeit solcher Liebesbeziehungen, indem er sie als „Schulfreundschaften von Mädchen“ bezeichnete – auch wenn einige der Frauen über zwanzig Jahre alt waren und er selbst zugeben musste, dass „diese Freundschaften oft unter Mädchen anzutreffen sind, die die Schule verlassen haben“, und es sich daher nicht mehr um „Schulfreundschaften“ handeln kann.

The School-Friendship of Girls (Anhang D) beginnt mit der Studie der zwei italienischen Mediziner, Obici und Marchesini, die Ende des 19. Jahrhunderts an italienischen Schulen eine Untersuchung mit Schülerinnen zwischen zwölf und zwanzig Jahren machten: die „Flamme( („Schwarm“ oder „Flirt“, d. h. gleichgeschlechtliche Leidenschaft oder Liebe zwischen jungen Leuten) wurde in jeder Schule „als notwendige Institution betrachtet“, und obwohl diese Leidenschaft oft ungeschlechtlich war, „kreisten alle geschlechtlichen Äußerungen der Jugendlichen um diese“, und „alle Abstufungen sexueller Gefühle“ wurden in dieser Leidenschaft ausgedrückt.

Obici und Marchesini betonten, dass die Beziehungen auf keinen Fall einfach nur Freundschaften waren. Sie begannen „mit einem regelrechten Werben“; das Mädchen, dass sich verliebt hatte, spazierte im Garten, wenn sie glaubte, dass die Angebetete am Fenster saß; um die Geliebte vorbeigehen zu sehen, blieb es auf der Treppe stehen; es war voll von „stummer Bewunderung, Blicken und Seufzern“; es sandte ihrer Geliebten Blumen, kleine Botschaften und schließlich „lange und glühende Liebeserklärungen“.

Die zwei Ärzte hatten übe 300 Liebesbriefe gelesen, die „von den Empfängerinnen sorgfältig aufbewahrt worden waren“. Aus diesen Briefen schlossen sie, dass die „Flamme“ im allgemeinen einer „körperlichen Zuneigung“, einer Bewunderung für die Gestalt und den Stil der Geliebten entsprang. Die Briefe seine „voller Leidenschaft“ und „sehr wahrscheinlich häufig in Zeiten körperlicher Erregung und emotionaler Gereiztheit geschrieben“.

Obici und Marchesinie zählen fast ein Dutzend Merkmale auf, die diese von den üblichen Freundschaften unterschieden; das Verlangen, zusammen zu sein, sich zu umarmen und zu küssen; verzehrende Eifersucht; Überhöhung der Qualitäten der Geliebten; der Entschluss, alle Hindernisse zu überwinden, um der Liebe Ausdruck zu geben; die Freude an der Eroberung.

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Zusätzlich zur Studie von Obici und Marchesini zog Ellis ähnliche Forschungsergebnisse aus England und den Vereinigten Staaten heran. Auch sein englischer Kollege unterschied zwischen einer Freundschaft und – wie in englischen Mädchen- und Frauenschulen üblich – einem „Schwarm“. Die junge Frau mit einem „Schwarm“ hatte oft mehrere enge Freundinnen, für die sie Zuneigung fühlte, nicht aber die freudige Erregung und die mehr oder minder ausgeprägte erotische Reaktion empfand, die charakteristisch für einen Schwarm ist. Verliebten sich Frauen später in Männer, wurden laut ihren eigenen Aussagen in beiden Fällen dieselben Gefühle geweckt. Die amerikanische Studie über solch Beziehungen wurde an der Clark Universität in Worcester, Massachusetts, von E.G. Lancaster durchgeführt und im Pedagocical Seminary im Juli 1897 veröffentlicht. Lancaster untersuchte das Gefühlsleben von über achthundert Lehrerinnen und älteren Schülerinnen. Seine Fragebögen stellten zwar keine Fragen zur gleichgeschlechtlichen Liebe, aber eine große Zahl der Antwortenden berichteten freiwillig von ihren homosexuellen Erfahrungen, woraus er schloss, dass gleichgeschlechtliche Liebe unter jungen Menschen sehr verbreitet und die Gefühle keineswegs „bloß freundschaftlich“ seien, sondern dass „die Liebe stark, wirklich und leidenschaftlich ist“ und „dieselbe Intensität und Treue“ besitzt, „die gewöhnlich mit heterosexueller Liebe verbunden wird“.

Lancaster stellte weiterhin fest, dass in manchen Schulen „Schwärmereien“ unter weiblichen Personen so „modisch“ seien, dass „kaum jemand nicht davon betroffen“ sei, und jede neue Schülerin „diese Mode bald zum Opfer“ falle. Gelegentlich gab es „ein Abklingen im allgemeinen Schwärmen“, nur um sich nach einer Pause wieder „mehr oder weniger epidemisch auszubreiten“. Und wieder einmal zog Ellis nicht den logischen Schluss, dass die Existenz oder Nichtexistenz homosexueller Leidenschaft oft davon abhängt, welche Leidenschaft von unserer Umwelt als passend erachtet, genauso wie großbusige Frauen für heterosexuelle Männer in einigen Gebieten attraktiv und in anderen wiederum unattraktiv sind. Die erotische Liebe hat vermutlich viel weniger mit angeborenem Instinkt denn mit „Mode“ zu tun, als die meisten Sexualforscher je auch nur in Betracht gezogen haben.

Obici und Marchesini schätzten die Häufigkeit von Schwärmereien in normalen Schulen auf rund sechzig Prozent. Ein Mitarbeiter fügte dem hinzu, dass von den verbreiteten vierzig Prozent nicht daran teilnahmen, „weil ihr Äußeres nicht genügend Gefallen fand oder ihre Charaktereigenschaften keine Sympathie erweckten“. Achtzig Prozent aller weiblichen Personen, die von der Studie erfasst wurden, lebten romantische Freundschaften oder hätten dies gerne getan.

Wie erklärt Ellis denn die Häufigkeit (d. h. „Normalität“) gleichgeschlechtlicher Liebe, wenn diese achtzig Prozent keine Versuchpersonen aus nervenkranken Familien stammten oder auf irgendeine Weise „männlich“ waren? Seiner Meinung nach „hat die Schwarm-Beziehung zwar ein unbestreitbares sexuelles Element“, kann aber trotzdem nicht als Ausdruck einer „wirklichen, angeborenen Krankhaftigkeit des Geschlechtstriebes“ gelten. Die Tatsache, dass diese Frauen schließlich zu einer heterosexuellen Lebensform finden und dass diese Erscheinung so weitverbreitet ist, beweist, dass solche Schwärmereien nur die Homosexualität kopieren. Er scheint wie folgt zu überlegen: Wenn die Mehrheit der Frauen diese Art gleichgeschlechtlicher Liebe erlebt, kann sie nicht „widernatürlich“ sein – aber eben auch nicht echt. Echte Inversion ist etwas anderes – sie ist bestimmbar durch Eigenschaften, welche die Mehrzahl dieser jungen Frauen nicht besitzt. Er bezeichnet daher alle Hinweise auf gleichgeschlechtliche Liebe, die bewiesen, dass sie völlig alltäglich waren, als „Kopien“. Auf „echte Inversion“ aber wies jedes Merkmal hin, dass als krankhaft identifiziert werden konnte: zum Beispiel, ausgeprägte neurotische Erbanlagen, Veranlagung zur Gewalttätigkeit, ein Hang zum Transvestismus – und alle diese Übel verband er mit dem Feminismus.

Seine Schüler, wie zum Beispiel Thoinot, sahen zwar die offensichtlichen Fehler in Ellis Theorie, stellten aber nicht die Theorie in Frage, sondern bauten weiter auf ihr auf. Wie konnte zum Beispiel erklärt werden, dass eine verheiratete Frau mit Kindern sich später sexuell mit einer Frau verband? Sie litt an einer angeborenen Inversion, die sich erst spät in ihrem Leben bemerkbar machte.; d. h. sie litt an einer „verzögerten Inversion“, wie es Thoinot 1998 bezeichnete.

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Die Sexualforscher schufen also ein drittes Geschlecht, dass vom neurotischen Wunsch besessen sein sollte, die bis anhin akzeptierte Frauenrolle abzulehnen, und dessen Gefühle sie als invertiert bezeichneten, obwohl diese Gefühle während Hunderten von Jahren als normal angesehen worden waren. Ihre Theorien hatten einen beträchtlichen Einfluss auf die Ärzteschaft und die Frauen. Im Vorwort der zwölften Ausgabe von Psychopathia Sexualis bemerkte Richard von Krafft-Ebing, dass der große „Verkaufserfolg“ seines Buches „der beste Beweis ist, dass eine große Anzahl von unglücklichen Menschen in diesen Seiten Belehrung und Hilfe für die häufig rätselhaften Äußerungen des sexuellen Lebens finden“. Es war das Ergebnis von Krafft-Ebings wegbereitenden Bemühungen, dass zwischen 1998 und 1908 allein in Deutschland mehr als tausend Artikel und Bücher über Homosexualität veröffentlicht wurden. Um die Jahrhundertwende manifestierten sich diese Theorien auch in der Gründung von Gruppierungen wie dem Scientific Humanitarian Committee, dass sich zum Ziel gesetzt hatte, die Welt das dritte Geschlecht zu erklären. Obwohl es noch ein oder zwei Jahrzehnte dauern sollte, bis die Öffentlichkeit die Theorien der Sexualforscher zur Kenntnis nahm, hatte sich die Ansicht über die Liebe zwischen Frauen mittlerweile zutiefst verändert.

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Männer, die Männer liebten, übernahmen die wissenschaftliche Erklärung der erblich bedingten Veranlagung ihrer Gefühle nur allzu gerne, denn sie war praktisch. Im 19. bis hinein ins 20. Jahrhundert gab es fast überall in Europa und in den Vereinigten Staaten Gesetzte, die sexuelle Beziehungen zwischen Männern verboten. Frauen wurden in den Gesetzen des 19. Jahrhunderts meistens ausgelassen (nur Österreich verhängte die gleichen Strafen für Frauen und Männer). Diese Gesetzte gingen davon aus, dass Homosexualität ungesetzlich war, weil sie eine Sünde war. (Diese Vorstellung ist ein Erbe des christlichen Begriffs „Sodomie“, worunter Selbstbefriedigung, Zoophilie, Anal- und Oralverkehr (beide Geschlechter), Ejakulation zwischen den Schenkeln, Homosexualität ect verstanden wurde. – Ihre Gemeinsamkeit bestand lediglich darin, dass sie nichts zur Fortpflanzung beitrugen, dem für das traditionelle Christentum einzig legitimen Zweck und Grund menschlicher Sexualität!)  Die Theorie der erblich bedingten Veranlagung aber bewies, dass sie nicht ein Laster, sondern etwas war, mit dem man bereits zur Welt kam, was bedeutete, dass sie weder eine Sünde, noch ansteckend war und Gesetze somit überflüssig.

Warum aber akzeptierten Frauen diese Ansicht und verinnerlichten sie, wie zum Beispiel Ellis Miss M.? Vielleicht hätten sie, um widerstehen zu können, mehr Selbstvertrauen gebraucht, als ein eben erst flügge gewordener Mensch (die Frauen wurden aber erst um die Jahrhundertwende vollwertige Menschen) aufbringen konnte. Wie hätten sie einer Ärzteschaft, die sie ein ganzes Jahrhundert eingeschüchtert hatte, entgegenhalten können, dass sie selbst Ignoranten und ihre bewussten und unbewussten Motive suspekt waren. Vielleicht auch akzeptierten die Frauen die Theorie der Veranlagung, weil sie – ironischerweise – unabhängigen Frauen eine Bedeutung zukommen ließ, die ihnen bis anhin versagt geblieben war: Ja, sie waren anders. Sie mussten sich ihren Lebensunterhalt selbst verdienen, sie hatten kein Interesse an Männern und der Ehe, und sie bevorzugten die Gesellschaft ihres eigenen Geschlechts, weil sie so geboren wurden, und keine Drohung, Versprechungen und kein Beschwatze konnte sie je „kurieren“. Während also die Sexualforscher mit ihren Theorien einerseits den Feminismus diskreditierten, indem sie ihn mit Abnormalität in Zusammenhang brachten, boten sie andererseits den starken Feministinnen, die von ihrem Ziel nicht abzubringen waren, eine Stütze, mit der sie unbelästigt ihres Weges gehen konnten – so hofften sie wenigstes.

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Zu Beginn des folgenden Jahrhunderts trugen einige Feministinnen das Stigma der „Inversion“ als Erkennungszeichen, auf das sie stolz waren. 1903 beharrte Aimée Duc in ihrem Roman „Sind es Frauen?“ anhand ihrer Romanfigur darauf, dass diese Art Frau niemals heiraten darf und für ein anderes Leben bestimmt sei. Und obwohl ihre Liebe Frauen gehört, ist ihr Leben nicht in erster Linie durch Liebe, sondern durch Arbeit bestimmt. Ein von Ducs Figuren ist Ärztin, eine andere Medizinstudentin, mehrere doktorieren. Sie verwerfen die „Gefühle der Zuneigung“, die Frauen Männern schenken: „Ich glaube nur, dass Liebe unfrei macht, und halte es daher für das höchste, die Freiheit seines Ich´s zu bewahren!“ Eine andere behauptet, dass ein Mensch, der sich „geistig sehr intensiv und energisch beschäftigt, gar nicht Zeit hat, so viel an die Erfüllung von Liebe zu denken“. Das Gros der Frauen, und darin sind sie sich einig, „leiden an mangelnder Arbeit und Verstandesschulung und fällt daher auch so leicht einer unglücklichen Liebe zum Opfer“. Die Romanfiguren argumentieren rein feministisch, aber sie haben von den Sexualforschern gelernt, dass die normale Frau nicht so denkt, und dass sie solche Gefühle nur haben, wenn sie erblich anders veranlagt sind. Sie sind stolz, die Etikette der „Krafft-Ebingschen“ zu tragen, weil ihnen dies erlaubt, „jedem die persönliche, die geistige und die körperliche Freiheit (zu) lassen, und uns als Frauen, die kein Gattungswesen sind, unser Menschenrecht (zu) wahren!“. Ihr Kompromiss ist folgerichtig: Vor den Theorien der Sexualwissenschaftler wurden sie immer wieder (falls nicht von Verwandten und Freunden, dann durch gesellschaftliche Prägung) zu überzeugen versucht, dass sie, sobald sie den richtigen Mann gefunden hatten, ihr anmaßendes Streben aufgeben und eine Familie gründen würden. Ohne diese Theorien, die ihnen Gründe lieferten, weshalb einige Frauen anders sind, hätten sie eventuell selbst geglaubt, dass mit der Zeit ihre „normalen Instinkte“ obsiegen, und wären nicht in der Lage gewesen, mit vollen Kräften ihren Beschäftigungen nachzugehen.

Die Sexualforscher retteten sie, indem sie ihnen eine scheinbar einleuchtende Theorie lieferten, die ihren erlaubte, ruhig ihre eigenen Ziele zu verfolgen. Sicher, sie liebten Frauen – aber welche Frau tat das nicht. Nicht ihre Homoerotik brachte sie dazu, sich Krafft-Ebingsche zu nennen, sondern ihr Wunsch nach Freiheit.

Die Theorien der Sexualforscher und die wachsende Mobilität der Frauen schufen bald einen gesonderten, selbstbewussten Kreis von Frauen, die sich „Invertierte“ nannten. In Deutschland, wo der Einfluss der ersten Theoretiker, die größtenteils Deutsche waren, am frühesten und stärksten fühlbar wurde, blühte um die Jahrhundertwende eine neue lesbische Gemeinschaft. Xavier Mayne stellte 1908 fest, dass es in deutschen Städten, „wo die „Emanzipation“ von Fraueninteressen erzielt wurde“, lesbische Zusammenkünfte und Künstlerinnenbälle gab, die „von den besten Elementen des weiblichen ästhetischen Lebens“ und anderen Frauen des Berufslebens rege besucht wurden. Viele dieser Frauen kamen von der Frauenbewegung her. Jetzt traten sie als gesonderte, immer noch feministische Gruppe hervor und baten die Frauenbewegung um Hilfe, da die beiden Bewegungen miteinander verknüpft waren. Die Antwort war ziemlich positiv.

Selbstverständlich sahen sich nicht alle Feministinnen als Lesbierinnen, auch wenn die Frauen, die sich als Homosexuelle bezeichneten, am stärksten und energischsten hervortraten. Einige Feministinnen sahen sich als homo-, andere als heterosexuell, und dies nicht aufgrund von angeborenen Unterschieden und frühen Traumatas, sondern vielmehr aufgrund von momentanen, zufälligen Lebensumständen: War es ihnen möglich, gefühlsmäßige Bande zu einer Freundin aufrechtzuerhalten, oder hatte diese geheiratet? Hatten sie einen verständnisvollen Mann gefunden, der sie in ihren feministischen Zielen zu unterstützen versprach, oder hatte ihr Verehrer ihnen diesen Unsinn auszureden versucht? Hatten sie innerhalb der Bewegung eine gleichgesinnte, unbelastete Frau gefunden, die die gleichen Ziele hatte und offen war für eine intime Freundschaft? Ihre „sexuelle Identifikation“ hing nicht davon ab, ob sie der einen oder anderen Sexualität den Vorrang gaben. Es wäre auch den meisten in der Viktorianischen Ära aufgewachsenen Frauen nicht in den Sinn gekommen, Sex als ausschlaggebenden Faktor zu betrachten.

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Vita Dutton Scudder (15 dec 1861 – 9 oct 1954)

Für uns, die wir nach Sigmund Freud, nach Master und Johnson leben, ist eine erotische Liebe ohne Sex kaum mehr vorstellbar. Für Frauen um die Jahrhundertwende war dies aber kein Problem. Vida Scudder, Schriftstellerin, Professorin am Wellesley College und ihr Leben lang romantische Freundin der Schriftstellerin Florence Converse (Diana Victrix), ist vermutlich für viele Frauen, die in der Viktorianischen Ära geboren wurden, repräsentativ. Als alte Frau, die seit zehn Jahren von Wellesley pensioniert war, erinnert sie sich ihrer Freundschaften, insbesonders ihrer romantischen Freundschaft mit Florence Converse. Über diese Beziehung schreibt sie 1937: Sie „kommt dieser absoluten Verbindung, die wir immer ersehnen und die wir zumindest auf Erden nie erlangen, näher und näher“ und „mehr als jede andere irdische Kraft, führt sie uns ins Ewige. Wenn sie nicht auf Illusionen baut, stirbt sie nie, obwohl eigenartige Zwischenspiele sie heimsuchen, obwohl Treue hie und da zu Hilfe gerufen werden muss, um das Verlangen zu ergänzen. Ihr Drama kennt kein Ende, wenn der Tod besiegelt eine solche Verbindung … In der Ewigkeit vereinigen sich die Liebenden.“ Ihre Viktorianische Psyche muss aus der Leidenschaft, die das Mystische mit dem Erotischen verbindet, das Geschlechtliche ausklammern, falls sie rein bleiben will. Offenbar war dies aber für sie und viele andere Frauen des 19. Jahrhunderts, die den „Sexualtrieb“ zu ignorieren gelernt hatten, keine Bürde. Scudder meint, dass wir die Sexualität zu wichtig nehmen. Sie macht Freund dafür verantwortlich: „Er haftet für vieles.“ Es überrascht sie, dass wir „in dieser wunderbaren, abwechslungsreichen, aufregenden Welt eine Art von Erfahrung so viel Aufmerksamkeit schenken … Das Leben einer Frau, die keine sexuellen Interessen kannte, ist weder langweilig, noch leer, noch ohne Romantik“. Sie gibt zu, ihre Liebesgeschichten mit anderen Frauen erlebt zu haben.

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Elisabeth Dauthendey enthüllt in „Vom neuen Weibe und seine Liebe“: Ein Buch für reife Geister, dass viele Frauen Probleme haben mit der Vorstellung, Sexualität als Teil der Frauenliebe zu sehen. Sie zeigt, dass Frauen, die der Rohheit der Männer entkommen und ihren Berufen nachgehen wollen, Liebesbeziehungen mit Frauen eingingen. Sie teilten ihr Bett und „die Leidenschaft einer tiefen, glückseligen Freude“. Diese Liebe habe aber nichts mit den „unreinen Annäherungsversuchen der Sapphistinnen“ gemein. Die allgemeine Verwirrung wurde noch größer, als selbst einige von denen, welche die Etikette „Sapphistin“ akzeptierten – so wie Ellis Miss M. – nichts mit Sexualität zu tun haben wollten, da sie ihrer „edelsten Empfindung“ widersprach. Unabhängig davon, ob sie sich als „normal“ oder „invertiert sahen: der genitale Sex blieb für viele „anständigen“ Frauen der Mittelschicht das große Schreckgespenst, das sie ignorierten und leugneten.

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Wenn wir Richard von Krafft-Ebings und Havelock Ellis Beispiele der Inversion betrachten (Alice Mitchell, die „typische Invertierte“, die die Kehle ihrer Geliebten durchschnitt), wird klar, weshalb viele Frauen in die heterosexuelle Ehe flüchteten oder eine riesige Portion Selbsthass und Selbstmitleid entwickelten, wenn sie das Stigma der „Invertierten“ für sich annahmen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wies die europäische Populärliteratur, die größtenteils unter dem Einfluss der Sexualforscher stand, auf „Tausende unglücklicher Wesen“ hin, welche „die Tragödie der Inversion in ihrem eigenen Leben erfahren“, und auf Leidenschaften, die „im Wahnsinn oder Selbstmord enden“. In den Köpfen der Leute wurde die Liebe zwischen Frauen mit Krankheit, Geistesgestörtheit und tragischen Vorfällen identifiziert. Bald einmal wurde den betroffenen Frauen geraten, sich körperlich und geistig untersuchen zu lassen.

Angesichts dessen erstaunt es, dass trotzdem viele Frauen ihr seelisches Gleichgewicht bewahren konnten. Dazu bedurfte es sicher einer ungewöhnlichen Stärke und Reife. Vielleicht verhalf ihnen ihr Leben als unabhängige, vollwertige Menschen mit ernsthaften Interessen, diese Qualitäten zu entwickeln und sich selbst trotz der gesellschaftlichen Ächtung ihres Lebensstils als gesund und produktiv zu sehen. Frauen, denen das gelang, erscheinen natürlich nicht in den Fallgeschichten der Sexualforscher. Die „kontrasexuelle“ Autorin eines autobiografischen Aufsatzes, der im Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen 1901 erschien, ist vermutlich trotzdem für viele Frauen ihrer sozialen Stellung repräsentativ: Sie berichtet von beruflichem Erfolg und vom Glück mit ihrer geliebten Gefährtin. Sie ermuntert andere zu Optimismus und Glauben an ihr Wohlergehen:

Sei mutig, meine Schwestern, und zeigt, dass ihr genauso viel Recht zu leben und zu lieben habt wie die „normale“ Welt! Trotz dieser Welt und sie wird euch dulden, euch anerkennen und sogar beneiden! Erhebt die Waffen! Ihr müsst und werdet erfolgreich sein. Ich habe es geschafft. Warum solltet ihr nicht alle, jede Einzelne von euch, erfolgreich sein?

Stimmen wie diese gingen leider im Morast der in den folgenden Jahrzehnten veröffentlichten medizinischen Fachliteratur und Trivialromanen unter.

(Der Text ist ein Ausschnitt aus dem Buch von Lillian Faderman: Köstlicher als die Liebe der Männer. Romantische Freundschaft und Liebe zwischen Frauen von der Renaissance bis heute, Teil II: Das 19. Jahrhundert/der Beitrag der Sexualforscher.)

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