Manchen Themen verdienen es hier- immer und immer wieder- emporgeholt zu werden, weil sie superwichtig aber meistens nur schwer verständlich sind, sodass ein Beleuchten aus einer neuen und anderen Perspektive oft mehr Verständnis und neue Erkenntnisse hervorbringen kann. So ist es- nach den lesbischen Vampirinnen- auch mit den romantischen Frauenfreundschaften des achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert, die von vielen Lesben und queer-indentifizierten Frauen als „asexueller Händchenhaltekram von Ehefrauen“ spöttische belächelt und abgelehnt werden. Sie identifizieren sich lieber vollständig mit der lesbischen bzw. homosexuellen und die Heterosexualität als Norm und Normalität nicht anzweifelnden Minderheiten- Identität; und queer ist nur eine moderne Variante davon. … Aber wie es denn wirklich so war mit den romantischen Freundinnen und dem gemeinsamen Sex, und warum diese Frage so wichtig für eine eigenständige weibliche Identität/Definition sein kann, dem nähert sich der Text von Sheila Jeffreys sehr schön an- und auch wenn er für ein Blogpost ziemlich lang ist, ich habe ihn schon mit Bildern, Videos und abwechslungsreichen Formatierungen aufzulockern versucht,- ist er mehr als durchlesenswert…!!

51-6-20+EML

Ist`s wichtig, ob sie`s taten?
In ihrem Buch Surpassing the Love of Men (link zur deutschen Ausgabe: Köstlicher als die Liebe der Männer) zeigt Lilian Faderman, das im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert die leidenschaftliche Freundschaft zu anderen Frauen im Leben der Mittelschichtfrauen von entscheidender Bedeutung war. Gemeinsam mit anderen amerikanische feministischen Historikerinnen stellte sie fest, dass die Tagebücher und Briefe dieser Frauen fast unweigerlich eine gleichgeschlechtliche Freundschaft enthüllen, von der anzunehmen ist, dass sie leidenschaftliche Umarmungen und Küsse, Liebeserklärungen und im selben Bett verbrachte Nächte voller Schmusen und Zärtlichkeit einschloss; und diese Freundschaft bestand oft von der Kindheit bis ins hohe Alter. Diese Beziehungen waren für die Zeitgenossen gesellschaftlich so anerkannt, dass eine Frau dem Verlobten der Frau, die sie liebte, schreiben und ihm mitteilen konnte, sie fühle sich ganz als Ehemann seiner Verlobten und liebe sie bis zur Raserei und könne nicht anders, als sehr eifersüchtig sein. Männer neigten dazu, diese Beziehungen ihrer zukünftigen Frauen als eine sehr gute Einübung in die Gepflogenheiten der Liebe zu betrachten. Es kam vor, dass die Freundinnen nicht ertragen konnten, getrennt zu werden, selbst während der Hochzeitsreise nicht, so dass der Ehemann seine Hochzeitsreise mit beiden zu verbringen hatte.

Die leidenschaftlichen Erklärungen ewiger Zuneigung und Beschreibungen höchst sinnlicher Berührungen sind für den modernen Blick beunruhigend, weil wir derartige Verhaltensweisen als Hinweis auf ein lesbisches Verhältnis zu deuten gelernt haben, nicht aber als zur alltäglichen Lebensweise der Mehrheit der verheirateten Mittelschichtfrauen gehörig. Faderman zeigt, wie im späten neunzehnten Jahrhundert Sexualwissenschaftler ein Klischee der Lesbierin zu entwickeln begannen, das solche wechselseitige Leidenschaft mit einbezog, und wie die gesellschaftsfähige Form der Freundschaft zwischen Frauen mehr und mehr eingeschränkt wurde. Eine starke Gefühlsbindung und körperliche Intimität war nur noch den Frauen gestattet, die als lesbisch abgestempelt waren. Sie erklärt diesen Wandel damit, dass eine größere Notwendigkeit als vorher bestand, die Frauen zu kontrollieren, und führt dies auf die Entwicklung einer starken Frauenbewegung zurück und auf gesellschaftliche und wirtschaftliche Veränderungen, die die Macht der Männer über die Frauen bedrohten. Emotionale Beziehungen zwischen Frauen waren nur harmlos, solange Frauen nicht die Möglichkeit hatten, sich von Männern unabhängig zu machen, und wurden gefährlich, sobald Frauen die Möglichkeit Wirklichkeit werden lassen konnten, die Heterosexualität zu vermeiden. Ihr Buch hat Faderman verdientermaßen viel Bewunderung eingetragen, hat aber auch bei einigen Kritikerinnen einen Sturm des Protests ausgelöst. Für unser Selbstverständnis ist es wichtig zu begreifen, worum es in dieser Kontroverse überhaupt ging.

Das Problem scheint zu sein, wie Faderman diese leidenschaftlichen Freundschaften innerhalb der Geschichte des Lesbianismus einordnet. Aufgrund der im neunzehnten Jahrhundert verbreiteten Auffassung, der Frau mangele es an sexueller Aktivität, hält sie es für unwahrscheinlich, dass die beteiligten Frauen es zu genitalen Kontakten haben kommen lassen, und ihre Definition des Lesbianismus schließt nicht notwendig genitale Berührung mit ein:

Lesbisch beschreibt eine Beziehung, in der zwei Frauen aufs tiefste füreinander fühlen und einander zugeneigt sind. Sexueller Kontakt mag in unterschiedlichen Graden Teil der Beziehung sein, oder er mag gänzlich fehlen. Beide Frauen ziehen es vor, den größten Teil ihrer Zeit miteinander zu verbringen und die meisten Bereiche ihres Lebensmiteinander zu teilen. „Romantische Freundschaft“ beschreibt eine ähnliche Beziehung.

Faderman weiß, dass ihr Hinweis, lesbische Identität schließe nicht notwendig genitalen Kontakt ein, eine Streitfrage ist. Sie erkennt an, dass „es zweifellos unwahrscheinlich ist, dass viele Frauen heute, geboren in einer sexbewussten Zeit, eine lesbische Beziehung ohne irgendeinen sexuellen Austausch haben könnten. Der Druck dazu in unserer Kultur ist da, wenn wir körperlich und geistig gesund sein wollen“. Sie zitiert eine Anzahl lesbischer Schriftstellerinnen, die eine Definition des Lesbianismus, die sie für männlich halten und die durch den genitalen Kontakt begrenzt und nur auf ihn konzentriert ist, zurückweisen.

Für diesen Widerstand (den Proteststurm gegen ihr Buch von Seiten der Lesben) scheint es zwei Hauptgründe zu geben. Faderman wird zu einem vorgeworfen, sie habe eine falsche Leseart der Geschichte vorgelegt und habe dem Andenken der Frauen, deren Beziehungen sie als leidenschaftliche Freundschaft beschreibt, einen schlechten Dienst erwiesen, wenn sie sie als lesbisch bezeichnet, obwohl sie sich selbst nicht als Lesbierinnen begriffen hätten. Der andere Grund scheint in dem Gefühl zu liegen, verraten worden zu sein. Fadermans Definition (des Lesbischseins) wird als Verwässerung der lesbischen Lebensform betrachtet, deren sexuelle Komponente sie herunterspiele, und ihre Arbeit sein für die feministische Theorie nutzlos, denn sie würde damit die lesbische Lebensform „entsexualisieren“.

Die Kritikerrinnen vertreten eine besonders zeitgenössische Definition des Lesbianismus – genau diejenige, die den männlichen Sexualwissenschaftlern besonders am Herzen liegt-, und sie bestreiten, dass die leidenschaftlichen Freundschaften zwischen Frauen irgendetwas mit Lesbianismus zu tun hätten, weil, und das überrascht nicht, sie jener Definition nicht genügen. Sie wollen eine besondere lesbische Identität und Subkultur aufrechterhalten, die sie bedroht sehen, wenn hier Frauen zugelassen würden, die den Initiationsritus des genitalen Kontaktes nicht durchlaufen haben. (Sie bestimmen „Sex“ eindeutig als genitalen Kontakt.) Alle intensiven sinnlichen Berührungen, das Herzen und Küssen, wofür die leidenschaftlichen Freundinnen des neunzehnten Jahrhunderts einstanden, wird als witschi-waschi und „nicht“ lesbisch abgetan.

Einige ihrer Befürchtungen sind wohl begründet. Es stimmt, dass die lesbische Einigkeit und Identität durch die Konzeption der Schwesterlichkeit bedroht worden ist. Während der siebziger und achtziger Jahre haben es die lesbischen Frauen in der Frauenbewegung für notwendig gehalten, ihre Vorliebe für Frauen und ihre Sexualität herunterzuspielen, um bei den heterosexuellen Frauen keinen Anstoß zu erregen, die in der Bewegung immer noch die Mehrheit ausmachen, und dem Lesbianismus oder irgendwelchen diesbezüglichen Themen wurde wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Unter dem Wohlgefühl Händchenhaltender Schwesterlichkeit kann Lesbischsein nicht eingeordnet werden. Das ließe dem Gespräch über spezifisch lesbische Unterdrückung keinen Raum und böte uns nur wenig Chancen, eine lesbische Geschichte und Kultur zu erarbeiten, die für unseren Stolz und unser Überleben unabdingbar sind. In diesem Zusammenhang ist Adriennes Richs Gedanke des lesbischen Kontinuums problematisch; ihre Behauptung, alle Freundschaften zwischen Frauen seine Schattierungen oder Abstufungen innerhalb des Lesbianismus, verwirrt unvermeidlich bei jedem Versuch, die Unterdrückung des Lesbischseins zu analysieren. Frauen, die einfach nur „beste Freundinnen“ haben, teilen weder die Unterdrückung noch die Erfahrung von Lesbierinnen. Solange wir die Definition des Lesbischseins offen genug halten, um heterosexuelle Frauen, die ihre beste Freundinnen lieben, miteinzuschließen, wird es schwer sein, klar zu formulieren, was an der Erfahrung und Unterdrückung von Lesbierinnen das Besondere ist, und die Kraft zu entwickeln, gegen den Zwang zur Heterosexualität und gegen die Unsichtbarkeit von Lesbierinnen zu kämpfen.

Leidenschaftliche Freundschaften und die Geschichte des Lesbianismus
Wenn wir es jedoch akzeptieren, dass genitaler Kontakt bewiesen sein muss, bevor wir eine Beziehung zwischen Frauen in die Geschichte des Lesbianismus einordnen dürfen, ist es durchaus möglich, dass wir schließlich mit gar keiner lesbischen Geschichte dastehen. Die Geschichte der Heterosexualität – und das ist die einzige Geschichte, die sich uns bietet und die wir als überholt bezeichnen – stützt sich nicht auf den Beweis des genitalen Kontakts. Männer und Frauen werden für heterosexuell gehalten, es sein denn, das Gegenteil ist „genital“ bewiesen. Dass Frauen, die dreißig Jahre lang in selben Haus gelebt und im selben Bett geschlafen haben, lesbisch waren, wurde von HistorikerInnen kategorisch geleugnet. Aber von Männern und Frauen, die einfach nur miteinander spazieren gehen, wird angenommen, dass sie irgendeine Art heterosexuelle Beziehung miteinander haben.

Wenn wir es für wichtig halten, eine lesbische Geschichtsschreibung ins Leben zu rufen, müssen wir bereit sein, darauf zu bestehen, dass bestimmte Frauen zueinander in Beziehung standen, die mit Lesbischsein zu tun haben; obwohl es uns sicher schwerfallen wird, in jedem historischen Zeitabschnitt vor 1920 Frauen auszumachen, die erkennbar zu einer Subkultur gehörten und eine lesbische Identität hatten, die mit den heute gebräuchlichen Definitionen übereinstimmt. Sicherlich ist das Argument zweifelhaft, es sei beleidigend und unfair, jene Frauen als Lesbierinnen zu bezeichnen, die sich selbst nicht als Lesbierinnen sahen. Erstens müssen, wenn sie in Zeiten gelebt haben, bevor sexualwissenschaftliche Theorien in Mode kamen, sowohl ihr allgemeiner Orientierungsrahmen als auch ihre individuellen Ansichten, was die Liebe zwischen Frauen betrifft, sich notwendig von den heute gebräuchlichen unterschieden haben. Zweitens unterstellt ein solches Argument, dass eine lesbische Identität an sich eine Schande sei: ein Standpunkt, den lesbische Frauen heute nicht mehr vertreten, und keiner, der Frauen in der Vergangenheit angelastet werden soll.

Heterosexualität hat ihre Formen auch geändert, und trotzdem sind wir bereit, Frauen in der Vergangenheit für heterosexuell zu halten, die für den Sexualverkehr mit Männern kein Interesse hatten und ihn vielleicht nur mit absolutem Widerwillen über sich haben ergehen lassen. Viele Frauen des neunzehnten Jahrhunderts befanden sich, soweit wir wissen, in der Lage. Für die verheiratete Mittelschichtfrau des neunzehnten Jahrhunderts wäre eine heterosexuelle Identität undenkbar gewesen, die auf der Freiwilligkeit des Sexualverkehrs mit Männern beruht hätte oder auch nur darauf, Männer in irgendeiner Form zu begehren. Können wir diese Frauen einfach in die Geschichte der Heterosexualität einschließen?

Heterosexualität ist natürlich weit mehr als eine sexuelle Praktik. Sie ist eine durch geschriebene Gesetze urkundlich belegte Institution und ein kulturelles Universum, getragen von unzähligen Ritualen, Geschichten, von Kunst und Literatur, von religiösen und gesellschaftlichen Ideologien, die von ihm künden. So zu tun versuchen, als eine Heterosexualität oder Homosexualität einfach oder vorwiegend sexuelle Praktiken, hieße, alles Politische ignorieren. Die enorme und wachsende Anzahl von Veröffentlichungen der feministischen Theorie heute, geschrieben von HistorikerInnen, PhilosophInnen, SoziologInnen; LiteraturwissenschaftlerInnen und anderen, erklärt und macht anschaulich, auf welche Weise die Gesellschaft der heterosexuellen Schablone gemäß organisiert ist. Es wird klar, dass Heterosexualität das Ordnungsprinzip männlicher Vorherrschaft ist.

Da dies so ist, treiben Frauen, die dabei nicht mitmachen, im luftleeren Raum oder sie schaffen sich eine Identität, die sie befähigt, mit Selbstachtung zu überleben, mit einer Kultur und einem gesellschaftlichen Leben. Lesbianismus kann daher nie einfach nur eine sexuelle Praktik sein. Die genitalen sexuellen Praktiken, auf die üblicherweise von vielen der Lesbianismus reduziert wird, haben seit Jahrhunderte stattgefunden, zum Beispiel zwischen Prostituierten; aber in diesem Zusammenhang hatten sie (und haben sie noch) die Funktion, Männer zu erregen. Sie sind auch von Frauen ausprobiert worden, deren Einbindung in das heterosexuelle System nie in Zweifel gezogen worden ist. Im Gegensatz dazu ist Lesbischsein, wie lesbische Feministinnen es verstehen, eine leidenschaftliche Bindung an Frauen, eine Kultur, eine politische Alternative zu der institutionalisierten männlichen Vorherrschaft, ein Weg, auf dem Frauen immer Selbstachtung gewonnen und ihre eigenen Ziele verfolgt und mit der Unterstützung anderer Frauen etwas erreicht haben. Dass die sinnliche Komponente dabei eingeschlossen ist, ist mehr als wahrscheinlich, mag sie nun zu genitalen Kontakten geführt haben oder nicht.

Wessen Interesse dient es, Lesbianismus lediglich für eine sexuelle Praktik zu halten? Wenn Lesbischsein zusammen mit Sodomie und Päderastie, auf einen Punkt in der Aufzählung sexualwissenschaftlicher Handbücher reduziert wird, verschwindet die emotionale, kulturelle und politische Dimension. Dies dient eindeutig dem Status Quo. Lesbianismus als sexuelle Praktik ist keine Bedrohung. Wäre es so, gehörte er nicht zum Repertoire von Bordellen und Pornografie für Männer. Die lesbische Lebensform als ein emotionales Universum, dass Frauen eine Alternative bietet, die in das heterosexuelle System nicht hineinpassen, ist jedoch eine Bedrohung. Dann ist sie anarchisch und bedroht das Organisationsprinzip männlicher Vorherrschaft.

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The Scotch Verdict
Vor diesem Hintergrund erhält die Frage, wie Fadermans zweites Buch The Scotch Verdict zu bewerten ist, entscheidende Bedeutung. Das Buch befasst sich eingehender mit dem Vorfall, der in Surpassing the Love of Men kurz angeführt ist. Dies ist der Fall von Miss Woods und Miss Pirie gegen Helen Cummings Gordon in Edinburgh im Jahre 1811. Die Enkelin der adeligen Dame Helen Cummings Gordon (das Mädchen war die uneheliche Tochter eines schottischen Imperialisten und einer Inderin) war Schülerin der Schule, die Woods und Pirie führten. Sie erzählte ihrer Großmutter, dass die Lehrerinnen sexuellen Umgang miteinander hätten, und Cummings Gordon sorgte dafür, dass alle Kinder von der Schule genommen und so die Lehrerinnen ruiniert waren. Woods und Pirie strengten eine Prozess gegen Cummings Gordon an, den sie gewannen, und zwar hauptsächlich deshalb, weil die Richter außerstande waren zu glauben, dass zwei Damen solche Dinge miteinander tun konnten. Das Buch enthält lange, ins moderne Englisch übersetzte Einschübe aus dem Verhandlungsprotokoll. Die gewähren und quälende Einblicke in die Art und Weise, wie Frauen und Mädchen ihre Beziehung zueinander damals sahen.

Faderman hat sich dafür entschieden, ihrem Buch die interessante Frage zugrunde zu legen, was Pirie und Woods denn nun miteinander getan hätten. Hatten sie genitalen Kontakt miteinander, wie einige Zeuginnen der Anklage behaupteten? Faderman ist sicher, das dies nicht der Fall war. Ihre Geliebte Ollie, die mit ihr nach Edinburgh reiste, als Faderman ihre Recherchen durchführte, war ebenso überzeugt, dass es der Fall war. Ich gestehe, dass beider Sichtweise der Vorkommnisse mich verwirrt, und es ist mir ein Rätsel, warum die Frage, ob sie genitalen Kontakt hatten, so eine bedeutende Angelegenheit ist, dass die bewiesen werden müsste. Ich bin mir nicht sicher, ob dies als Hauptgegenstand der Kriminalgeschichte ausreicht, zu der The Scotch Verdict gerät. Fadermans und Ollies Sichtweisen sind zwischen Fadermans Übersetzungen eingeschoben.

Faderman hält es für unwahrscheinlich, dass die beiden Frauen sexuellen Umgang miteinander hatten, und zwar aus folgenden Gründen: Die Epoche, in der sie lebten, legt nahe, dass Frauen sexuelle Empfindungen unterdrückten oder sie zumindest nicht mit genitalen Berührungen in Verbindung brachten; und es liegt nahe, dass sie es nicht getan haben (im Sinne der Anklage), während sie im selben Raum wie die Schülerinnen schliefen. Es ist schon möglich, Fadermans Meinung zu teilen, dass sie keinen genitalen Umgang miteinander hatten. Was zu akzeptieren schwerfällt, ist die Anstrengung, die sie darauf verwendet, es zu beweisen. Hier folgt ein Teil ihrer Erläuterung:

Fast alles, was Jane Cummings und Janet Muro (Schülerinnen) beschrieben, hatten sein Gegenstück in Gesten oder Bemerkungen, die gänzlich harmlos waren. Dies war nur dann nicht der Fall, wenn Jane Cummings ein bestimmtes Detail aus einem Vorrat an Falschinformationen und halb verstandenen Vorstellungen erfunden hatte. Dieses hatte sie in der Elgin School von einem oder zwei Mädchen bezogen, den Töchtern eines Krämers, die bereits draußen in der Welt gewesen waren, bevor sie zur Ausbildung auf die Schule geschickt wurden. … Von September bis November kam die eine zur anderen ins Bett, mehr als ein dutzendmal, um miteinander zu reden. … Manchmal gerieten sie in Streit, in gedämpften Ton, aber ihre Erregung war si stark, dass die Stimme als Ventil nicht genügte, also drückte sie sich körperlich aus; die mögen einander geschüttelt oder auf das Kopfkissen eingeschlagen oder am Bettzeug gezerrt haben. Manchmal schluchzten sie oder atmeten flach und schnell. … Im Oktober wurde wohl auch Miss Piries Rheuma schlimmer. Manchmal, wenn sie in gutem Einvernehmen miteinander standen, ist Miss Woods wohl auch zu Miss Piries Bett gegangen, um ihrer Freundin den Rücken zu massieren.

Und so weiter.
Ollies Fassung ist ganz anders. Sie verwendet ein sehr modernes Modell lesbischer Lebensweise, um ihrerseits zu erklären, was diese Frauen taten. Aus diesem Grunde fällt es mir schwer, ihre Version zu akzeptieren. Es scheint doch so, dass sie einfach ihre Erfahrungen und Definitionen auf diese Frauen überträgt, die in einer ganz anderen Zeit und einem ganz anderen Ort gelebt haben. Hier ist ein Teil ihrer Erklärung:

Sie wurden Liebende – nicht im Sinne einer romantischen Freundschaft, sondern so, wie wir heute das Wort benutzten – kurz nachdem sie sich getroffen hatten, acht oder neun Jahre vor dem Zusammenbruch der Schule. … Und wohl über ein Jahr lang schliefen sie miteinander, vielleicht noch länger. Miss Cummings schnarchte laug. Sie hatten es nicht darauf abgesehen, aber es passierte ihnen eben, dass sie sich körperlich liebten. Die lange Enthaltsamkeit und die Notwendigkeit, es geheim zu halten, das Wagnis, alles zusammen machte es erregender, als es je gewesen war.

Der 1961 gedrehte US-amerikanische Spielfilm „The children´s hour“ (deutsch „Infam“)- mit Audrey Hepburn und Shirley MacLaine in den Rollen der beiden Lehrerinnen- basiert übrigens auf diesem gerichtlichen Fall:

Die wilde Entschlossenheit, mit der Faderman zu beweisen sucht, dass sie keinen genitalen Sex miteinander hatten, klang mir so befremdlich, dass ich anfing, die in ihrem früheren Buch vorgetragenen Überzeugungen in Frage zu stellen, dass nämlich im neunzehnten Jahrhundert Frauen in einer leidenschaftlichen Freundschaft nie genitalen Sex miteinander gehabt hätten.

Ich glaube, dass es eine dritte Möglichkeit gibt, die der Tatsache, dass diese Frauen in einer ganz anderen Welt mit anderen Begriffen lebten, vielleicht Rechnung trägt und zugleich etwas mehr Spielraum lässt. Ich halte es für möglich, dass zwei Frauen, die sich, wie es üblich war in einer leidenschaftlichen Freundschaft, leidenschaftlich umarmten, die erregenden Empfindungen, die mit Reibung im Genitalbereich verbunden sind, wahrnehmen und die Möglichkeit erkunden wollen, diese Empfindungen zu steigern. Auch heute entdecken Frauen auf diese Art Sex mit anderen Frauen, daher scheint es mir nicht unmöglich, dass es im neunzehnten Jahrhundert auch so war. Ich denke, wir müssen flexibel bleiben und dürfen weder unsere heutige lesbische Identität noch eine entschieden als nicht-genital definierte auf die Erfahrungen der Frauen von damals übertragen.

Sehr interessant an dem Buch ist, dass es zeigt, dass Mädchen in „netten“ Internaten im Jahre 1811 Lesbierinnen bewusst wahrnahmen und sich damals darüber wahrscheinlich genauso unterhalten haben wie Mädchen von heute. Sie redeten über Lesbischsein mit Haus- und Küchenmädchen, die alle darüber was gewusst zu haben scheinen. Dies legt doch nahe, dass die Annahmen, alle leidenschaftlichen Freundschaften seien nicht-sexuell gewesen, unklug ist, wenn sich so viele Mädchen und Frauen der genitalen Möglichkeiten solcher Beziehungen bewusst waren.

The Scotch Verdict ist im Zusammenhang mit Surpassing the Love of Men ein sehr lesenswertes Buch, weil es die Frage, wie wir leidenschaftliche Freundschaften zu interpretieren haben, so unmittelbar aufwirft. Fadermans Arbeit hat jeder weiteren lesbisch-feministischen Geschichtsschreibung eine Grundlage gegeben. Sie hat sowohl die herkömmliche heterosexuelle Geschichtsschreibung als auch die neueren „schwulen“ Interpretationen über den Haufen geworfen. Ihre Arbeit hilft uns, in die Debatte einzutreten, die für die lesbische Geschichtsschreibung so entscheidend ist, die Debatte darüber nämlich, was Lesbianismus heute für uns heißt und damit über unsere unterschiedlichen Definitionen. Dieser Prozess ist längst fällig. Das Thema der leidenschaftlichen Freundschaften erregt eine leidenschaftliche Kontoverse, und das wiederum legt nahe, dass es einen sehr wichtigen politischen Punkt berührt. Jedes ketzerische Infragestellen des herkömmlichen Lesbenklischees des zwanzigsten Jahrhunderts, wie zum Beispiel 1979 in einem Papier, das Feministinnen dazu aufrief, sich den Männern zu entziehen und sich als politische Lesben zu erklären, auch wenn sie noch keine Liebesaffäre mit einer Frau gehabt hätten, führte zu einem Sturm des Protestes.

Wie können wir das Klischee in Frage stellen und zugleich unsere Identität als Lesbierinnen bewahren? Stellen wir es nicht in Frage, werden Lesbierinnen eine winzige, durch den genitalen Kontakt definierte Minderheit von Frauen bleiben, und sich säuberlich in die Kategorien einfügen, die die Herrn und Meister uns zugewiesen haben. Keine Bresche wird dann in die Schutzwälle der Heterosexualität geschlagen, und die heterosexuelle Grundlage männlicher Vorherrschaft wird felsenfest bestehen bleiben. Stellen wir es aber in Frage, dann stellen wir aber auch unsere Sicherheit in Frage, und zwar insofern, als unsere Sicherheit und Identität eben auf dieser Definition beruhen. Wir bedürfen einer Identität, die stark, revolutionär und lesbisch ist.

(Dieser Aufsatz von Sheila Jeffreys stammt aus dem in Deutschland 1991 erschienenen Buch „FRAUENLIEBE“ – UND SIE LIEBTEN SICH DOCH – Lesbische Frauen in der Geschichte 1840- 1985.)

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